Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesratesan die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit
Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesratesan die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit
vom 30. April 2025
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Wir informieren Sie gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 30. April 2025 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Beurteilung der Bedrohungslage
1 Ausgangslage
Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 ¹ (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie, ebenfalls gemäss dem NDG, auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland.
Eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive findet sich im jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz» ² . Die Prüfung der Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, wie auch die Festlegung von Prioritäten bleiben Aufgabe der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz.
Der letzte sicherheitspolitische Bericht wurde am 24. November 2021 ³ vom Bundesrat verabschiedet und veröffentlicht. Der Bundesrat hat hierzu am 7. September 2022 ⁴ einen Zusatzbericht mit einer erneuten Lagebeurteilung aufgrund des Kriegs Russlands gegen die Ukraine vorgelegt. Die neue sicherheitspolitische Strategie des Bundesrates ist für Ende 2025 in Vorbereitung.
¹ SR 121
² Abrufbar unter: www.vbs.admin.ch ˃ Sicherheit ˃ Nachrichtendienst ˃ Nachrichtendienst des Bundes ˃ Weitere Informationen ˃ Dokumente ˃ Lageberichte ˃ Sicherheit Schweiz.
³ BBl 2021 2895
⁴ Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine; BBl 2022 2357 .
2 Übersicht
Das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz hat sich 2024 weiter verschlechtert. Russlands Zusammenarbeit mit seinen wichtigsten Unterstützern im Krieg gegen die Ukraine hat sich nochmals intensiviert. Russland, China, Nordkorea und der Iran wollen die internationale Ordnung nach ihren eigenen Vorstellungen prägen. Sie wollen den Einfluss der USA und anderer westlicher Staaten zurückdrängen. Ihre Zusammenarbeit ist zwar von internen Spannungen und unterschiedlichen, teils auch gegensätzlichen Interessen durchzogen. Die vier Staaten arbeiten in verschiedenen Formen wirtschaftlich, politisch und teilweise militärisch enger zusammen.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zur verstärkten globalen Verknüpfung regionaler Konflikte beigetragen. So unterstützt die informelle Nuklearmacht Nordkorea Russland mit Lenkwaffensystemen und Artilleriemunition und seit Herbst 2024 auch mit Soldaten. Die russischen Gegenleistungen, die Nordkorea erhält, sind nur teilweise bekannt. Dies gilt auch für die Gegenleistungen Russlands gegenüber China und dem Iran.
Es bestehen gleichwohl wichtige Differenzen und Spannungselemente insbesondere zwischen Russland und China: Während Präsident Putin Russlands Beziehungen zu den USA und Europa als feindselig ansieht, bleibt China für seine wirtschaftliche Prosperität von beiden Märkten abhängig; China will keinen neuen Kalten Krieg. Viele Regionalmächte gerade im globalen Süden wollen sich zudem bewusst nicht exklusiv auf die USA oder China ausrichten und halten Kontakte und Handel bewusst mit beiden Seiten aufrecht.
Russland hat 2024 im Rahmen seiner hybriden Konfliktführung die Aktivitäten in EU- und Nato-Staaten intensiviert. Es nimmt dabei Kollateralschäden und zivile Opfer bewusst in Kauf. Zentral bei der hybriden Konfliktführung ist das bewusste Schaffen von Ambiguitäten und Unsicherheiten unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt. Die intensivierte hybride Konfliktführung bringt erhebliche Eskalationsrisiken mit sich.
Wie gross das Transformationspotenzial der neuen amerikanischen Administration im transatlantischen Sicherheitsgefüge ist, wird sich erst zeigen: Noch ist ungewiss, in welchem Mass und wie die USA unter Präsident Donald Trump für die Sicherheit Europas und die globale Ordnung einstehen wollen und können. Die meisten europäischen Staaten erhöhen zwar ihre sicherheitspolitischen Anstrengungen, doch gibt es keinen europäischen Konsens im Umgang mit Russland. Auch die ersten aussen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen und Vorschläge der Trump-Administration stellen die Befürworter der bisher bestehenden Weltordnung vor grundsätzliche Herausforderungen. Das in Bewegung geratene sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz könnte dadurch künftig weniger Schutz bieten.
Russlands Krieg gegen die Ukraine dominiert weiterhin die Sicherheitslage in Europa. Der dominante globalstrategische Trend bleibt jedoch die Rivalität und die Konfrontation zwischen den USA und China. Wie diese beiden Grossmächte ihre gegenläufigen Interessen durchzusetzen versuchen, wird in den nächsten Jahren global die Sicherheitspolitik, die Wirtschaft und das internationale Problemlösungspotenzial tiefgehend prägen. Die heutige Welt ist fragmentiert, volatil und risikoreich.
3 Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland
Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin hat der Krieg gegen die Ukraine gegenwärtig höchste Priorität. Russland ist überzeugt, dass es den Krieg zumindest 2025 mit der aktuellen Intensität weiterführen kann; der Präsident ist entschlossen, die Ukraine fest in den russischen Herrschaftsbereich zu integrieren.
Russland weitete seinen Krieg gegen die Ukraine im Oktober 2024 mit dem Einsatz von nordkoreanischen Soldaten aus. Die USA und andere westliche Verbündete erlaubten der Ukraine ab November 2024, westliche Abstandswaffen gegen militärische Ziele auf völkerrechtlich anerkanntem russischem Territorium einzusetzen. Die Ukraine steht in ihrem Verteidigungskampf massiv unter Druck. Die diesbezügliche Unterstützung westlicher Staaten bleibt von amerikanischen Beiträgen abhängig und wird unter dem Vorbehalt amerikanischer Eigeninteressen stehen.
Russland ist derzeit nicht unter Druck, auf eine Waffenruhe oder Friedensverhandlungen hinzuarbeiten. Die Stolpersteine auf dem Weg zu einem nachhaltigen Waffenstillstand oder dem Beginn von Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bleiben gross.
Allerdings blieben die grundsätzliche Spannungslage und die unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der Sicherheitsordnung in Europa auch nach einer Waffenruhe oder gar der Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bestehen. Denn Russland zielt über die Ukraine hinaus strategisch auf die Wiedererlangung seines vormaligen Status: Es strebt nach der Wiederherstellung seiner Einflusssphäre in Osteuropa, wie Präsident Putin in seinen beiden Ultimaten an die USA und die Nato im Dezember 2021 klar gemacht hat. Über eine Rekonstitution der im Krieg gegen die Ukraine erlittenen Verluste hinaus plant Russland eine starke Erhöhung seines militärischen Potenzials. Es richtet seine Streitkräfte auf einen möglichen Krieg gegen die Nato aus.
Das Risiko einer nuklearen Eskalation in Europa hat sich nochmals verschärft: Russland verabschiedete im November 2024 eine neue Nukleardoktrin. Nukleare Drohungen und Nuklearwaffen als Machtmittel haben eine seit dem Kalten Krieg nicht mehr gesehene Bedeutung. Nebst westlichen Staaten haben auch China und Indien Russland davor gewarnt, das nukleare Tabu seit 1945 erstmals zu brechen. Die meisten Nuklearmächte rüsten jedoch ihre nuklearen Arsenale auf. Die Anreize für nukleare Proliferation steigen in verschiedenen Weltregionen.
Die Lage im Nahen und Mittleren Osten bleibt volatil und wird von anhaltenden bewaffneten Konflikten geprägt. Im Zentrum steht dabei die auf verschiedenen Schauplätzen ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Israel und der vom Iran angeführten sogenannten Achse des Widerstands. Der Sturz des Asad-Regimes in Syrien, die Schwächung der Hisbollah im Libanon und die Dezimierung der Hamas in Gaza haben die Position des Iran in der Region nachhaltig geschwächt und die Kräfteverhältnisse zugunsten Israels verschoben. Auch ist es dem Iran nicht gelungen, mit direkten militärischen Angriffen seine Abschreckungsfähigkeit gegenüber Israel wiederherzustellen. Mit der Rückkehr Donald Trumps ins Weisse Haus könnte der Druck auf den Iran insbesondere in der Nuklearfrage weiter zunehmen.
Syrien steht nach dem Ende der über fünf Jahrzehnte dauernden Herrschaft des Asad-Clans vor einem Neuanfang. Es ist fraglich, ob es der von der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham dominierten Übergangsregierung 2025 gelingen wird, ihre Macht zu konsolidieren und den Grossteil des Landes unter Kontrolle zu bringen. Insbesondere die Frage der Zukunft der kurdischen Gebiete beinhaltet wegen der Interessen der Türkei auch regionales Konfliktpotenzial. Für Russland und den Iran ist der Sturz des Asad-Regimes eine empfindliche Niederlage.
In Bezug auf die amerikanische Aussen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Trump ist zu erwarten, dass die USA ihre nationalen Sicherheitsinteressen deutlich enger interpretieren werden. Die USA werden sich wahrscheinlich vor allem auf China als strategischen Rivalen konzentrieren, während ihr Engagement für die europäische Sicherheit wohl abnehmen wird. Die europäischen Staaten werden bei der transatlantischen Aufgabenteilung eine grössere Last tragen müssen.
Der Machtzuwachs Chinas wird sich trotz verlangsamtem Wirtschaftswachstum und den bilateralen Spannungen mit den USA fortsetzen. China wird seine wissenschaftlichen und technologischen Fähigkeiten insbesondere über den Erwerb von Wissen stärken - mit legalen oder illegalen Mitteln. Wie in der Vergangenheit wird es dieses Wissen in seine industriellen und militärischen Fähigkeiten investieren. China wird zudem sein Nuklearpotenzial weiter ausbauen. Die Eingliederung Taiwans in die Volksrepublik und die Durchsetzung seines Souveränitätsanspruchs im Südchinesischen Meer bleiben strategische Ziele. China dürfte seine militärischen Machtdemonstrationen verstärken. Dabei wird es aber wahrscheinlich keine Eskalation riskieren, die zu einem Krieg mit den USA oder massiven wirtschaftlichen Sanktionen führen würde.
China wird politisch und wirtschaftlich seine strategische Partnerschaft mit Russland fortsetzen. Parallel dazu wird es sich um den Erhalt seiner politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den westlichen, insbesondere den europäischen Staaten bemühen. Dabei wird es aber seine Aktivitäten zur Beeinflussung politischer und wirtschaftlicher Entscheide weiterführen. Zudem wird China versuchen, seine Abhängigkeiten von weltweiten Lieferketten zu reduzieren. Auf neue Zölle, neue Handelshemmnisse oder Beschränkungen im Technologieaustausch seitens westlicher Staaten würde China wahrscheinlich mit Gegenmassnahmen antworten.
Das 2024 geschlossene Bündnis zwischen Russland und Nordkorea bringt das Risiko mit sich, dass Russland fortschrittliche Militärtechnologie zugunsten des nordkoreanischen Raketenprogramms weitergibt. Die Entwicklung nordkoreanischer Interkontinentalraketen, die als Trägermittel von Nuklearwaffen dienen, hat Einfluss auf die europäische Sicherheit, auch wenn die europäischen Länder nicht zu den Hauptfeinden der nordkoreanischen Führung zählen. Durch die Annäherung an Russland hat sich der chinesische Einfluss auf Nordkorea relativ vermindert. Die nordkoreanische Führung könnte sich durch den gewonnenen Handlungsspielraum zu einem siebten Nukleartest ermutigt sehen. China steht einem solchen Test ablehnend gegenüber.
Die Sicherheitslage in Teilen Afrikas bleibt angespannt - mit zunehmender politischer Unruhe, Terrorismus und Demokratieabbau seit 2020. 2024 lebte die Hälfte der afrikanischen Bevölkerung unter autokratischer Herrschaft. Die politische Instabilität fördert auch Terrorismus. Das Epizentrum des Terrorismus hat sich vom Mittleren Osten in die Sahelregion verlagert; fast die Hälfte aller 2023 durch Terrorismus getöteten Menschen lebten in Afrika südlich der Sahara.
In den geopolitischen Rivalitäten zwischen den USA, China und Russland gewinnt Afrika an Bedeutung. Neue Militärdiktaturen in Afrika verringern ihre Abhängigkeit von westlichen Staaten und kooperieren zunehmend mit Russland. Russland baut seinen Einfluss in der Sahelregion aus. Der Rückzug westlicher Truppen unterstreicht den Wandel der geopolitischen und geoökonomischen Ausrichtung mancher afrikanischer Staaten. China bleibt ein wichtiger wirtschaftlicher und politischer Akteur auf dem Kontinent.
4 Die Bedrohungen im Einzelnen
4.1 Terrorismus
Die Terrorbedrohung in der Schweiz bleibt erhöht. Sie wird weiterhin von der dschihadistischen Bewegung geprägt, insbesondere vom «Islamischen Staat», weit weniger von der al-Qaïda. Die Kernorganisation des «Islamischen Staats» und die Kern-al-Qaïda sind zurzeit kaum fähig, eigenständig komplexe Anschläge in Europa vorzubereiten oder zu verüben. Ihre Regionalgruppierungen und Ableger in Afrika, Asien und dem Nahen Osten verfolgen primär regionale Agenden, sind jedoch gewillt und fähig, bei sich bietender Gelegenheit Anschläge auf westliche Ziele zu verüben. Schweizerische Interessen im Ausland können somit Ziel eines dschihadistisch motivierten Anschlags werden oder davon in Mitleidenschaft gezogen werden.
Online radikalisierte junge Erwachsene und sogar Minderjährige beschäftigen die Sicherheitsbehörden weiter. Die starke Verbreitung dschihadistischer Propaganda im Cyberraum ist eine wichtige Inspirationsquelle für potenzielle Gewalttäterinnen und Gewalttäter. Trotz markanter Fortschritte der Strafverfolgungsbehörden und von Plattformbetreibern bei der Eindämmung dschihadistischer Online-Propaganda wird der Online-Dschihadismus allenfalls gebremst, aber nicht aufgehalten.
In der Schweiz geht die grösste Bedrohung weiterhin von dschihadistisch inspirierten einzelnen Personen oder Kleingruppen aus, die spontan Gewaltakte mit einfachen Mitteln wie beispielsweise Messern verüben. Solche Gewalttaten richten sich am ehesten gegen schwach geschützte Ziele. Exponiert sind zum einen insbesondere jüdische und israelische Personen oder Interessen und zum anderen Menschenmengen bei Veranstaltungen.
Die volatile Lage in Syrien hat einen Einfluss auf die Terrorbedrohung in Europa und der Schweiz. Der «Islamische Staat» in Syrien zeigt sich resilient und fähig, lokale Vorgänge im eigenen Interesse auszunutzen. Er sucht sich zu konsolidieren und nicht zuletzt auch Kader und Kämpfer aus den Gefängnissen zu befreien. Die Lage in Syrien macht es wahrscheinlicher, dass inhaftierte Dschihadistinnen und Dschihadisten, darunter wenige Dschihadreisende aus der Schweiz, freikommen.
Aus europäischen und auch Schweizer Haftanstalten entlassene Dschihadistinnen und Dschihadisten sowie Personen, die sich während der Haft radikalisiert haben, stellen einen anhaltenden Risikofaktor dar.
Der ethno-nationalistische Terrorismus bleibt eine Bedrohung. In Europa, einschliesslich der Schweiz, erhalten ethno-nationalistische Organisationen dank Propaganda, Geldsammlungen und Rekrutierungen trotz staatlicher Abwehrmassnahmen weiterhin Unterstützung.
4.2 Verbotener Nachrichtendienst
Angesichts der globalen Konfrontationen nimmt die Bedeutung der Spionage zu. Sehr wahrscheinlich werden zahlreiche Nachrichtendienste ihre diesbezüglichen Fähigkeiten weiter ausbauen. Die Schweiz ist davon in mehrfacher Hinsicht betroffen.
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Die Schweiz dient ausländischen Akteuren als Operationsraum. Diese klären sich gegenseitig auf. Diese Handlungen sind nicht immer strafrechtlich relevant. Die ausländischen Nachrichtendienste setzen auch schweizerische natürliche und juristische Personen ein.
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Vor allem die Grossmächte beschaffen mit nachrichtendienstlichen Mitteln Informationen über schweizerische Entitäten. Besonders betroffen sind Personen, Organisationen und Infrastrukturen in den Bereichen Aussen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, Rüstung, Rohstoff- und Energiehandel, Spitzentechnologie und Forschung. Zu den lukrativen Zielen gehören zudem in der Schweiz ansässige Unternehmen, die grosse Mengen von sensiblen Personendaten verarbeiten.
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In der Schweiz leben Personen, die aus ihren - meist autokratisch regierten - Herkunftsstaaten geflohen sind und von diesen nun hierzulande überwacht werden. Im Fokus stehen vor allem bekannte Regierungskritikerinnen und -kritiker sowie Exponentinnen und Exponenten der jeweiligen Diasporagemeinschaft. Die durch Spionage gewonnenen Informationen nutzen die Nachrichtendienste unter anderem dafür, die Opfer zu bestechen oder sie zu bedrohen, damit sie ihre regimekritischen Tätigkeiten unterlassen.
Einige ausländische Nachrichtendienste nutzen ihre Netzwerke in der Schweiz nicht nur zur Informationsbeschaffung, sondern auch zur illegalen Beschaffung kritischer beziehungsweise sanktionierter Güter, zur Verbreitung von Desinformation und Propaganda und zur verdeckten Einflussnahme. Für die Schweiz steigt das Risiko, zur Vorbereitung oder Durchführung von Entführungen, Sabotage und Attentaten im Ausland missbraucht zu werden, zum Beispiel in Zusammenhang mit der intensivierten hybriden Konfliktführung gegen westliche Staaten.
4.3 NBC-Proliferation
Die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland bleibt eine grosse Herausforderung für die Exportkontrolle, namentlich die Verhinderung von Umgehungsgeschäften via Drittstaaten. Die Sanktionen begünstigen extrem hohe Margen und machen Geschäfte für Firmen in Ländern lukrativ, die die Sanktionen nicht übernommen haben. Die Beschaffung von Gütern, die für die Produktion, Instandhaltung und Weiterentwicklung der Rüstungsindustrie benötigt werden, haben für Russland oberste strategische Priorität. Dementsprechend bietet es finanzielle Anreize für Firmen im Ausland, sich an Sanktionsumgehungen zu beteiligen. Die Spannbreite des Güterbedarfs ist riesig: Sie reicht vom einfachen, täglichen Verschleissmaterial (ohne Güterklassifikation) über einfache Microchips (sanktioniert, aber nicht «dual-use» klassifiziert) bis zu hochkomplexen Maschinen mit der Güterklassifikation «dual-use».
Russland spielt auch eine kritische Rolle bei der Effizienz der internationalen Exportkontrollregime. Seit Jahren blockiert es die Listung neuer Güter und untergräbt damit das konsensbasierte System multilateraler Exportkontrollen. Gleichzeitig stört Russland auch den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten. Die westlichen Staaten, darunter die Schweiz, versuchen die multilaterale Exportkontrolle aufrechtzuerhalten.
Trotz zwei Jahrzehnten internationaler Sanktionen bleibt die Fähigkeit des Irans, eine Nuklearwaffe zu bauen, ein zentrales Thema internationaler Sicherheit. Der Iran konnte seine Abhängigkeit von westlichen Staaten in verschiedenen Schlüsseltechnologien stark reduzieren. Er treibt den Ausbau seiner Urananreicherungsanlagen weiter voran. Bei den jüngsten iranischen Angriffen auf Israel und den israelischen Reaktionen darauf hat sich gezeigt, dass die israelische und letztlich auch amerikanische Abschreckung des Ausbruchs in ein militärisches Nuklearprogramm glaubwürdig ist.
Nordkorea treibt sein Nuklear- und Lenkwaffenprogramm weiter voran. Sowohl die Kapazitäten zur Anreicherung von Uran wie auch jene zur Produktion von Plutonium werden ausgebaut; zudem setzt Nordkorea seine Entwicklungsarbeiten für ein nuklear angetriebenes U-Boot fort. Im Lenkwaffenprogramm geht der Trend zur Einführung militärisch attraktiver Feststoffsysteme weiter. Zudem hat Nordkorea Trägermittelsysteme kurzer Reichweite in grosser Stückzahl operationalisiert und an der Grenze zu Südkorea stationiert.
4.4 Angriffe auf kritische Infrastrukturen
Der technologische Fortschritt erweitert die Fähigkeiten und Angriffsvektoren von Cyberakteuren. Die Cyberbedrohung nimmt deshalb zu und zwingt Sicherheitsbehörden und Betreiber kritischer Infrastrukturen dazu, mit den Entwicklungen Schritt zu halten.
Die Bedrohung durch Cyberspionage ist seit mehreren Jahren anhaltend hoch. Solche Angriffe, insbesondere von staatlichen russischen oder chinesischen Cyberakteuren, bleiben sehr wahrscheinlich. Hingegen bleiben gezielte Cybersabotageangriffe staatlicher Gruppierungen auf kritische Infrastrukturen in der Schweiz äusserst unwahrscheinlich, solange die Schweiz nicht in einem direkten Konflikt mit einem Staat steht. Dann würden solche Angriffe allerdings rasch wahrscheinlicher. Cybersabotageangriffe ausländischer Akteure auf Ziele im Ausland können jederzeit Schäden in der Schweiz verursachen.
Cyberangriffe auf Schweizer Ziele können nicht losgelöst von der Bedrohung durch Mittel der hybriden Konfliktführung in den umliegenden EU- beziehungsweise Nato-Staaten betrachtet werden. Staatliche russische und chinesische Cyberakteure missbrauchen IT-Infrastruktur in der Schweiz, um Ziele hierzulande oder im Ausland auf Schwachstellen abzusuchen und auszuspionieren. Ausserdem wurde bereits IT-Infrastruktur in der Schweiz zur Cybersabotage von Zielen im Ausland missbraucht.
Des Weiteren bedrohen Cyberkriminelle primär durch Ransomwareangriffe kritische Infrastrukturen. Dabei entsteht teilweise erheblicher finanzieller Schaden für die betroffenen Firmen, und sensible Daten können abfliessen. Kriminell motivierte Cyberangriffe können zum Ausfall kritischer Infrastrukturen führen. Politisch motivierte Hacktivistinnen und Hacktivisten haben im Ausland in wenigen Fällen versucht, schlecht geschützte industrielle Systeme zu manipulieren. Der Schaden dort blieb bisher gering, wurde aber zur Propaganda verwendet.
Bedrohungen für kritische Infrastrukturen gehen nicht allein von Cybermitteln aus, sondern auch von physischen Angriffen. So könnte auch kritische Infrastruktur in der Schweiz sabotiert werden, um aus machtpolitischem Kalkül davon abhängige Staaten zu beeinträchtigen. Neben staatlichen oder rein finanziell interessierten Akteuren können terroristisch oder gewalttätig extremistisch motivierte Personen und Gruppierungen Angriffe auf kritische Infrastrukturen verüben.
4.5 Gewalttätiger Extremismus
Die gewalttätige rechts- und die gewalttätige linksextremistische Szene setzen ihre Aktivitäten fort. Die von den Szenen ausgehende Bedrohung bleibt auf erhöhtem Niveau stabil. Die etablierten Gruppierungen haben ihre Strategie und ihre Taktik nicht geändert.
Für die gewalttätige linksextremistische Szene bleiben Antifaschismus in einer weiten Auslegung und besonders die kurdische Sache thematisch prägend. Das Gewaltpotenzial bleibt konstant erhöht. Die Szene vermag spontan zu mobilisieren und erachtet Gewalttaten als probates Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele. Ihre Aktionen dienen hauptsächlich dazu, die Aufmerksamkeit auf die aus ihrer Sicht relevanten Themen zu lenken. In Europa steigt das Risiko, dass gewalttätige Linksextremistinnen und Linksextremisten gezielt Personen angreifen oder gar Terroranschläge verüben.
Der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten interessiert die gewalttätige linksextremistische Szene vorab wegen der kurdischen Gebiete. Exponentinnen und Exponenten verbreiten Aufrufe zu Kundgebungen und Protesten. In der gewalttätig rechtsextremistischen Szene fanden die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten keinen Widerhall.
Die gewalttätig rechtsextremistische Szene in der Schweiz führt ihre meist klandestinen Aktivitäten fort. Einzelne Gruppierungen zeigen ihre Haltung zu aktuellen politischen Themen öffentlich, beispielsweise mit Transparentaktionen und im Internet verbreiteten Propagandavideos. In Europa steigt die Bedrohung durch rechtsextremistisch motivierten Terrorismus weiter.
Im virtuellen Raum verbreitete extremistische Propaganda kann besonders bei Minderjährigen und jungen Erwachsenen auf fruchtbaren Boden fallen und zu deren Radikalisierung wesentlich beitragen.
5 Auswirkungen auf die Schweiz
In Zusammenhang mit ihrer Ankündigung, die hochrangige Konferenz zum Frieden in der Ukraine in der Schweiz durchzuführen, ist die Schweiz zunehmend in den Fokus russischer Propagandamedien gerückt und seither vermehrt von russischen Beeinflussungsaktivitäten betroffen. So instrumentalisierte das russische Auslandspropagandamedium RT im März 2024 den dschihadistisch motivierten Messerangriff in Zürich, um mit einem Frontalangriff auf den Nachrichtendienst des Bundes Einfluss auf Diskurse in der Schweizer Bevölkerung zu nehmen und deren Vertrauen in staatliche Behörden zu untergraben.
Bisher wurden keine gegen die Schweiz gerichteten staatlichen Sabotageakte festgestellt; die Schweiz war bisher auch nicht direkt Ziel staatlicher Cybersabotageangriffe. Sie beherbergt aber für andere europäische Länder wichtige kritische Infrastruktur, die aus machtpolitischem Kalkül zum Ziel von Sabotage werden kann. Zudem könnten Personen, Anlässe oder Unternehmen in der Schweiz, die sich für eine Konfliktpartei exponieren, Ziel von Destabilisierungsaktionen werden.
Werden die Ukraine, die Nato oder die EU geschwächt, wird das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz instabiler. Die Erwartung gegenüber der Schweiz, einen höheren Beitrag an die europäische Sicherheit zu leisten, wird sich verstärken.
Die anhaltenden Krisen und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten wirken sich negativ auf die Interessen der Schweiz sowie die Sicherheit ihrer Staatsangehörigen in der Region aus. Sie verschärfen die Bedrohungslage in den Bereichen Terrorismus, gewalttätiger Extremismus und NBC-Proliferation. Auch haben Ereignisse in der Region Auswirkungen auf die Migration Richtung Europa.
Die Schweiz ist im Zeitalter zunehmender globaler Konfrontation noch immer relativ sicher. Ein direkter bewaffneter Angriff oder Terrorismus mit Massenvernichtungsmitteln haben in der Schweiz weiterhin eine relativ tiefe Eintretenswahrscheinlichkeit. Dennoch ist das europäische Sicherheitssystem seit 2022 unter Dauerstress, und das strategische Umfeld der Schweiz hat sich fundamental und nachhaltig negativ verändert. Die vielen Unsicherheiten fordern die Schweiz heraus, zu antizipieren, mit welchen sicherheitspolitischen Bedrohungen prioritär zu rechnen ist.
Bundesrecht
Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage. Bericht des Bundesratesan die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit
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